RegiestatementBiografieInterview

Gloria Dürnberger

 

Regiestatement von Gloria Dürnberger

So verschieden wir Menschen auch sind, haben wir doch alle eines gemeinsam: eine Mutter.
Wie definiert man „Mutter“ eigentlich? Genügt es, einen Menschen auf die Welt zu bringen, um dessen Mutter zu sein? Und wenn ja, wie bezeichnet man jene Person, die diesen Menschen dann großzieht, ihm vieles beibringt und sich ein Leben lang um ihn kümmert? Wer ist das dann?

Ich war 8 Monate alt, als mich meine Mutter weggegeben hat. Ich wuchs in einer Pflegefamilie auf, die ich als „meine Familie“ empfand. Meine leibliche Mutter kam alle zwei Wochen für exakt 2 Stunden zu Besuch und betonte dabei gerne und oft ihren Status als meine „Mutter“. Ich empfand sie als merkwürdige Tante. Doch da mir gesagt wurde, sie wäre meine Mutter und auch sie selbst so darauf bestand, wünschte ich mir, von ihr geliebt zu werden. Von ihr als Mensch gesehen und erkannt zu werden. Sie berühren zu dürfen, ihr nahe zu sein.
Eigentlich hatte ich diese Gefühle, diesen warmen und liebevollen Umgang mit anderen Menschen. Mit meiner Pflegemutter, meinem Pflegevater und meinen Pflegegeschwistern.

Mein Leben lang war die Verwirrung darum, wer meine Mutter und wer meine Familie ist, alltäglich für mich. Dabei schienen meine Gefühle zur Klärung dieser Frage zweitrangig zu sein. Die Gesellschaft um mich spiegelte mir ganz klar, dass meine „Mutter“ jene Frau ist, die mich geboren hat.
Gleichzeitig wurde mir auch transportiert, dass eine „Mutter“ eine fürsorgliche, sich aufopfernde, liebende Person wäre. Ein blumiges Bild von tiefer und inniger Liebe, das so gar nicht zu dem passen wollte, was ich für meine leibliche Mutter empfand: Befremden, Verstörung und Distanz.

Diese widersprüchliche Situation formierte eine Beziehung zu meiner leiblichen Mutter Margit, der ich in diesem Film nachgegangen bin.
„Das Kind in der Schachtel“ ist eine Momentaufnahme dieser inneren Suche und ein Einblick in eine Geschichte, die als Beispiel für viele andere Lebensgeschichten dient.

Es war mir ein Anliegen, diesen Film nicht mit Fakten zu füllen, sondern dem Zuschauer/der Zuschauerin eine emotionale Reise anzubieten, die Raum lässt für eigene Assoziationen, Erlebnisse und Interpretationsmöglichkeiten.

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Gloria Dürnberger

Buch, Regie, Protagonistin

Gloria Dürnberger, geboren 1981 in Wien, lebt und arbeitet als Filmemacherin und Schauspielerin in Wien und Berlin.
Schauspielausbildung mit Bühnenreifeprüfung, sowie Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Gender Studies.
Seit 2007 Arbeit als Filmemacherin.

Filmografie:
2014 „Das Kind in der Schachtel“, Kinodokumentarfilm [Buch, Regie, 2. Kamera]
2011 „Deuil“, Poesiefilm 5min, Thailand, DV [Regie, Kamera, Schnitt]
2010 „Queen of Queer“, Musikvideo von Superczerny [Konzept, Regie, Schnitt]
2008 Sarajevos Rosen,  Dokumentarfilm in BiH, 45min [Buch, Regie, Schnitt, Offstimme],
2006 Jemand Geht. Poesiefilm 5 min, DV [Regie, Kamera, Schnitt]
2006 Choreographers Venture. Experimentalvideo 8 min, DV [Regie, Kamera, Schnitt]
2004 Ima Neka Tajna Veza. Dokumentarfilm 38 min, DV (A / BIH) [Regie, Kamera, Interviews, Schnitt]

Diverse Videoarbeiten
2011 Musikvideo für die Band 24 [Konzept, Regie, Schnitt]
2008-2011 Videojournalistin bei Vienna Online und Krone.tv [Kamera, Schnitt, Offtext, Sprecherin]
2006 Regen.Blut. Theater-Videoperformance 35 min, DV [Regie, Kamera, Schnitt]
2005 Video für Edered: European Drama Encounters 60 min, DV [Schnitt]

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Interview mit Regisseurin Gloria Dürnberger

Was hat den Wunsch bei dir ausgelöst, diesen Film zu machen?

Im Jahr 2008 ist mir erstmals aufgefallen, dass ich kein gemeinsames Foto von meiner leiblichen Mutter Margit und mir besaß und anscheinend niemand jemals ein Foto von uns gemacht hatte. Das schockierte mich. Ich dachte, auf einem Foto könnte ich erkennen, welche Beziehung wir zueinander haben. Und da es kein Foto gab, gab es wohl auch keine Beziehung. Daraus entstand die erste Idee zu diesem Film. Ich wollte ein bewegtes Bild von uns machen, um herauszufinden, wer wir füreinander sind und was wir voneinander erwarten und wollen. Beim ersten Dreh, den ich damals machte und der nun ein wichtiger Teil des Films geworden ist, fand Margit dann doch gemeinsame Fotos von uns, und auch das „Kind-in-der-Schachtel“-Foto.
Nach diesem Start gab es viele Gespräche mit Menschen aus meinem Umfeld zu den Themen Familie, Mutterschaft und Pflegekinder. Und ich erkannte, dass in meiner Geschichte viele Aspekte schlummerten, die so universell sind, dass sie auch andere Menschen betreffen. Daher entschloss ich mich dazu, meine innere Reise filmisch festzuhalten, um auch anderen Menschen Mut zu machen, sich diesen Themen zu stellen.

Du hast dir ein Konzept mit zwei Dreharten überlegt: Mit deiner Mutter warst nur du allein, an allen übrigen Orten warst du als Frauenteam mit Kamera- und Tonfrau, sowie Regieassistentin unterwegs.

Mit Margit in ihrer Wohnung allein zu drehen hatte den Vorteil, dass die Situation zwischen uns intim blieb und nicht durch das Team beeinflusst wurde. Margits Wohnung ist für sie wie eine sichere Höhle, in die sie kaum jemanden hineinlässt. Mir ist erst im Laufe der Drehzeit klar geworden, dass es für sie ein Privileg ist, wenn sie jemanden in die Wohnung lässt. Auch war mir wichtig, dass Margit sich durch die Kamera und das Filmen nicht bedrängt fühlt. Allein schon durch den beengten Raum in ihrer Wohnung wäre das der Fall gewesen.
Weiters hatte ich ein Jahr lang immer eine Kamera bei mir, um wesentliche Situationen des Alltags nicht zu verpassen.
Das Team war immer dann gefragt, wenn wir im öffentlichen Raum gedreht haben. Die Bilder von Leena Koppe gaben dem Film einen wichtigen Rahmen, in dem der Balanceakt zwischen Privatem und Öffentlichem stattfinden konnte. Aber auch die Gespräche mit meiner Familie waren mit Team gedreht.
Der Auslöser für ein reines Frauenteam war ursprünglich, dass Margit sehr skeptisch gegenüber Männern ist, und wir daher vermeiden wollten, dass sie sich deshalb unwohl fühlt. Im Endeffekt hat es aber auch sicher mir geholfen, mich als Protagonistin zu öffnen.
Die Zusammensetzung des Teams war letztlich so stimmig, dass ich mir gut vorstellen könnte, in Zukunft wieder reine oder mehrheitlich weibliche Teams einzusetzen. In der immer noch männlich dominierten Filmbranche sind weibliche Teams leider eine echte Rarität.

Wie stehst du dazu, die Krankheit deiner Mutter anzusprechen?

Aus Respekt meiner Mutter gegenüber wird ihre Krankheit bewusst nicht konkretisiert im Film. Der Film ist darauf aufgebaut, dass man sich als Zuschauer seine eigenen Gedanken zu den Menschen und wie sie miteinander agieren machen kann und soll. Da ist jede Art von Stigmatisierung kontraproduktiv.
Aber es ist auch so, dass ich selbst lange nicht wusste, dass Margit krank ist. Ich habe erst in der Pubertät erfahren, was genau los ist. Diese Unwissenheit über ihre Krankheit und wie man damit umgehen kann, hat sich in unserer Beziehung natürlich manifestiert und zeigt sich in den verschiedensten Szenen.

In deinem Film kommen ja die Beziehungen zu vielen Familienmitgliedern vor: zu Mutter, Mama, Papa, Onkel, Geschwistern, auch deinem Verlobten. Du stellst dich mitten hinein und untersuchst die Tragfähigkeit, ihre und deine Verantwortung.

Meine Familie und mein Verlobter haben mir viel Vertrauen entgegengebracht durch ihre Mitwirkung an dem Film. Letztendlich war mir wichtig, sie alle auch zu Wort kommen zu lassen, die verschiedenen Positionen zum selben Thema auch nebeneinander stehen und gelten zu lassen. Auch wenn ich die Figur bin, die durch den Film führt, so ist meine Sicht der Dinge auch nur eine von vielen.
Meine Familie war verständlicherweise erst mal skeptisch. Das hat sich aber schnell gelegt, als ich ihnen erklärt habe, dass es mir bei dem Film darum geht, anderen Menschen Mut zu machen, sich ihrer Vergangenheit und schwierigen Themen im Leben zu stellen. Dass der Film keine Abrechnung ist, sondern die Aufarbeitung eines wichtigen Kapitels meines Lebens.
Ohne die Unterstützung meiner Familie und meines Verlobten hätte ich den Film nicht machen können.

Du bist Regisseurin und vor der Kamera zu sehen, wie ist es dir damit gegangen, Betroffene zu sein, die Handlung weiterzutreiben und über den Film zu reflektieren?

Regisseurin zu sein und gleichzeitig vor der Kamera als Betroffene zu agieren, war in der Tat eine große Herausforderung. Vor allem in den Szenen mit Margit die Kameraeinstellungen nicht aus den Augen zu verlieren und gleichermaßen einfach nur da zu sein und nichts zu planen, war manchmal schwierig. Gleichzeitig hat mir die Kamera auch geholfen, mich Situationen zu öffnen, vor denen ich normalerweise davonlaufen wollte. Die Kamera half mir, die innere Lähmung gegenüber Margit zu überwinden und aktiv zu bleiben. Ich habe während des Drehens einige meiner Grenzen überschritten und dadurch vieles erfahren, das mir sonst verborgen geblieben wäre.
Der Drang die Handlung weiterzutreiben zeigt sich beispielsweise daran, dass ich meinen leiblichen Onkel Bruno ohne den Film wahrscheinlich nie angerufen hätte. Das war eine große Überwindung für mich, die sich wirklich gelohnt hat. Das ist es auch, was ich am Filmemachen so großartig finde. Immer etwas Neues zu wagen, sich in Situationen zu begeben, deren Ausgang man nicht kennt und denen man wach begegnen muss. Im Idealfall entwickelt man dabei nicht nur den Film weiter, sondern auch seine eigene Persönlichkeit.

Dein Beruf ist ja auch Schauspielerin, spielst du hier? War es im Schnittraum überraschend, dich im Bild und in diversen Situationen zu sehen?

Es gibt in diesem Film keinen Moment, der gespielt ist. Außer Eisi Eisbär, den ich in dem Kindertheaterstück zum Besten gebe. Ansonsten zeigt der Film mein Privatleben, meinen ehrlichen Kampf mit mir selber, meiner Vergangenheit und meinen familiären Verstrickungen. Und das ist gleichzeitig auch das Schmerzhafte im Schnittraum. Sich selbst nicht in einer Rolle anzusehen, sondern in oftmals unangenehmen Situationen des eigenen Lebens. Sich selbst dabei zuzusehen, wie man überfordert oder traurig ist. Daran musste ich mich wirklich erst gewöhnen.

Wie hat sich das Projekt entwickelt, es lief ja über mehrere Jahre. Ursprünglich war ja der Fokus auf die Mutter gelegt, wann hat sich das geändert, dass es nun mehr um die Tochterrolle geht?

Ich habe 2008 die ersten Aufnahmen gemacht, die nun unter anderem auch als Prolog des Films fungieren. Zu dem Zeitpunkt war ich noch auf der Suche nach einem Rahmen, in dem sich der Film bewegen kann. Es fehlte mir zu diesem Zeitpunkt das Vertrauen, dass unsere Beziehung miteinander genügt, um universelle Themen wie Mutterschaft, Identität, Familie und Zugehörigkeit aufzugreifen. Die Beziehung zwischen Margit und mir ist ja lediglich der Ausgangspunkt zu diesen großen Themenkomplexen.
Nach einiger Reifezeit entstand das Konzept dann 2011/2012. Ein wichtiger Schritt in der Erarbeitung des Konzeptes war, das Bewusstsein dafür zu stärken, dass Dinge, die für mich normal sind, für andere Menschen überhaupt nicht normal sind. In diesem Stadium habe ich versucht, meine Mutter und mich als Figuren zu sehen, die es zu beschreiben galt. Elisabeth Scharang war in dieser Phase enorm wichtig, um mir diese Dinge zu spiegeln.

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Der Fokus auf die Tochterrolle hat sich erst im Schnitt entwickelt. Ich persönlich finde meine Mutter, meine Familie und meinen Verlobten viel interessanter als mich selbst. Daher lag mein Fokus erst mal auf ihnen und nicht auf mir. Durch Gespräche mit Elisabeth Scharang und der Produktion Geyrhalterfilm ist mir klar geworden, dass der Film über meine Augen funktioniert. Dass es nun mal kein Film ist, den ich über jemand Anderen mache. Und dass ich mich deshalb nicht rausziehen kann aus der Geschichte, sondern es darum geht, meine innere Reise zu dokumentieren.

Wie war der Ablauf, du hast ja geschnitten und gefilmt abwechselnd. Wie war der Prozess im Schnittraum und mit der Produktion?

Meine Cutterin Natalie Schwager und ich haben nach etwa zwei Drittel der Drehzeit mit dem Schnitt begonnen. Sichtungen des Materials gab es zwischendurch immer wieder. Aber es war natürlich eine Herausforderung, einen Film zu schneiden, dessen Ausgang noch unbekannt ist. Natalie hat daraufhin immer wieder Themenkomplexe herausgearbeitet, um den Erzählstrang zu konkretisieren. Das hat den Fokus fürs Filmen natürlich auch nochmal verschärft.
Wir haben uns dann dafür entschieden, den Film ohne Offstimme zu bauen, weil wir dadurch die Vielschichtigkeit der Szenen bewahren konnten. Beziehungsgeflechte sind etwas so Diffiziles, dass wir es als interessanter empfanden, sich beim Zuschauen seine eigenen Gedanken dazu zu machen, wer die Personen zueinander sind und was sie miteinander verbindet oder was sie trennt.
Die Arbeit mit Natalie Schwager war sehr bereichernd. Mit ihrer einfühlsamen und intelligenten Art hat sie sich von Beginn an tief in die Materie begeben und es mir dadurch auch leicht gemacht, mit ihr das intime Material anzusehen.
Mit Geyrhalterfilm hat es über den gesamten Projektzeitraum einen lebendigen, konstruktiven und inspirierenden Austausch gegeben. Bei einem so intimen Projekt ist es natürlich enorm wichtig, sich auch gut aufgehoben zu fühlen. Da hatte ich wirklich das Glück, die richtigen Partner an meiner Seite zu haben.

Du hast ja dein inneres Kind wieder zum Leben erweckt. Dein emotionales Spektrum reicht von Trauer über Zorn bis zu Staunen und Erleichterung. Möchtest du über deinen emotionalen Prozess reden?

Der größte Schritt, den ich gemacht habe, war sicherlich der aus der Passivität heraus. Mir alle diese Emotionen auch zuzugestehen und zu sagen: Ja, es tut weh. Aber ich schau mir das jetzt einfach an. Und dabei auch offen zu sein für andere Perspektiven. Verstehen zu wollen, wie es meiner Pflegefamilie mit der ganzen Situation geht und versuchen zu verstehen, warum Margit mich damals weggegeben hat.
Durch das Zulassen von meinem kindlichen Schmerz hatte ich auch wieder Raum, um die andere Seite der Geschichte zu verstehen. Für mich als Mensch hat der Film einen enormen Reifungsprozess ausgelöst. Ich kann die verschiedenen Gefühle, die in mir ausgelöst wurden, besser zuordnen und fühle mich dadurch meinem kindlichen Schmerz nicht mehr ausgeliefert.

Wie hast du dich entschieden, mit Öffentlichem und Privatem umzugehen?

Diese Entscheidung habe ich natürlich nicht über Nacht getroffen. Ich habe von der Idee bis zur endgültigen Entscheidung ein paar Jahre gebraucht, um reif dafür zu werden. Letztendlich war mir wichtig, dass ich die Zeit und den Raum habe, mich dem Thema wirklich zu widmen und mich wirklich darauf einlassen zu können. Das verlangt auch einen gewissen schützenden Rahmen innerhalb der ganzen Produktion. Ich konnte mich durch das großartige Team beim Dreh und in der Produktion auf die Dinge konzentrieren, die mir wirklich wichtig waren.
Ich hatte auch Zeit, in diese Öffentlichkeit hineinzuwachsen. Wenn man mit seinen Produzenten die eigenen Kinderfotos diskutiert, ist das auch schon ein großer Schritt in Richtung Öffentlichkeit. Und im Endeffekt ist es sehr kathartisch, die Dinge ehrlich auf den Tisch zu legen. Letztlich wäre es natürlich fein, andere Menschen damit anzustecken.

Elisabeth Scharang, Regisseurin von Filmen wie „Tintenfischalarm“ und „Vielleicht in einem anderen Leben“, hat dich dramaturgisch beraten, wie hat die Zusammenarbeit ausgesehen?

Ich habe Elisabeth Scharang erst durch dieses Projekt kennengelernt. Ich hatte sie kontaktiert und zufälligerweise hatten wir unser erstes Treffen an unserem gemeinsamen Geburtstag. Das war ein wirklicher Gänsehautmoment für mich. Ich wusste, dass Elisabeth die richtige Person für diesen Film war, weil sie so ein präzises Gespür für persönliche Geschichten hat, selbst auch oft die Kamera in ihren Filmen führt und so wie bei „Tintenfischalarm“ dabei auch selbst im Bild ist.
Elisabeth hat mich ab der Hälfte der Konzeptphase beraten und mir immer zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Wink gegeben. Sie war auch eine wichtige Stütze, wenn es darum ging, mir Dinge bewusst zu machen, die ich aufgrund der inhaltlichen Befangenheit nicht sehen konnte. Das Großartige an der Zusammenarbeit war, dass sie mir mit Rat und Tat zur Seite stand, wenn ich sie brauchte, sie mir aber ihre Sichtweise nie aufgedrängt hat.

Wie ist die Musik entstanden, die Martin Klein gemacht hat?

Die Musik hat Martin Klein extra für den Film geschrieben. Meine Cutterin Natalie Schwager und ich haben ihn immer wieder in den Schnittraum eingeladen und ihm Material gezeigt, um ihn spüren zu lassen, wohin sich der Film und die Menschen darin bewegen. Martin hat daraufhin Lieder geschrieben, die wir im Schnitt wieder ausprobiert haben. Und so hat der Prozess des Schneidens mit dem des Komponierens Hand in Hand gegriffen.
Die Bootsszene ist ein besonders gutes Beispiel für die verwobene Arbeitsweise. Ich habe den Text zu Martins Lied nach einem Drehtag geschrieben. Ich hatte mich an dem Tag erinnert, dass ich mir als Kind nach Besuchen von Margit immer vorgestellt hatte, ich bin ein Vogel und flieg ganz weit weg. Dass ich frei sein könnte von dieser inneren Belastung. Martin hat diesen Text dann genommen und mehrere Versionen von dem Lied aufgenommen. So sind die Inhalte des Films wirklich mit Martins musikalischer Interpretation verschwommen. Die letzte Version dieses Lieds habe ich wochenlang auf meinem Handy mit mir herumgetragen und immer wieder gehört, weil es mich so berührt hat.

Was möchtest du, dass der Film anderen Pflege- und Adoptivkindern sagt?

Es wäre schön, wenn ich anderen Pflege- und Adoptivkindern Mut machen kann, ihren Lebensweg nicht als Schicksalsschlag zu sehen. Wenn man sich den Dingen ehrlich stellt, sich die eigene Vergangenheit anschaut, geht man gestärkt daraus hervor und fühlt sich nicht länger als Opfer der Umstände. Über Konflikte zu sprechen bringt so viel. Das betrifft nicht nur Pflege- und Adoptivfamilien, sondern uns alle.
Ich habe mich so lange geschämt, ein Pflegekind zu sein und dachte viel zu lange, dass ich nirgends wirklich dazugehöre. Dabei habe ich eine tolle Familie, der ich auch ohne Blutsverwandtschaft angehöre und die mich liebevoll aufgenommen hat und immer für mich da war. Nur ist mir das erst jetzt wirklich bewusst geworden. In meinem Fall kann man wirklich sagen: Ende gut, alles gut. Ich bin vor kurzem von meiner Pflegefamilie adoptiert worden. Und das mit Anfang Dreißig.

Der Film startet ja zum Muttertag, was wünschst du dir, dass der Film dazu beiträgt?

Die Beziehung zur Mutter ist ja die erste Beziehung überhaupt im Leben. Und dementsprechend stark ist das Thema emotional besetzt.
Ich würde mir wünschen, dass DAS KIND IN DER SCHACHTEL einen offenen Diskurs zum Thema Mutterschaft/Elternschaft anregen kann. Die Themen Kindheit, Identität und Familie spielen dabei natürlich auch eine Rolle.
Momentan kommt mir die Rolle der Mutter in unserer Gesellschaft noch als eine Art heilige Kuh vor, die nicht angerührt werden darf. Aber nicht jeder Mensch hat das Glück, zu seiner biologischen Mutter auch ein positives Verhältnis zu haben, und gerade auch in Zeiten, wo der Begriff Familie dermaßen im Wandel ist, finde ich es wichtig, über dieses Thema offen zu reden.